Mein Schulweg im Jahr 1956

[responsivevoice_button rate=”1″ pitch=”1.2″ volume=”0.8″ voice=”Deutsch Male” buttontext=”Vorlesen”]Was ist an meinem täglichen Schulweg vor gut 60 Jahren so interessant, dass dessen Beschreibung Einzug auf Lembeck.de und in das Lembecker Jubiläumsbuch findet? Ich weiß es nicht genau. Ludwig Drüing möchte aber, dass in der Jubiläumsausgabe auch über eher belanglose und auf den ersten Blick nur kleine Gruppen betreffende Ereignisse geschrieben wird. Zum Beispiel über die Empfindungen, die sechsjährige Schulkinder in den ersten Monaten ihrer Schulzeit auf dem täglichen Weg zur Schule neu erleben. Mein Name ist Johannes Heidermann und ich bin Ostern 1956 in die Laurentius-Volksschule eingeschult worden. Ich wohnte mit meinen Eltern und zwei Brüdern im Dorf auf der Wulfener Straße 32.

An den eigentlichen Akt der Einschulung kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Mit Sicherheit begann der erste Schultag mit dem Besuch der heiligen Messe in der Laurentius Pfarrkirche. Anschließend hat mich vermutlich mein älterer Bruder Franz-Josef oder Elisabeth Recker mit zur Schule genommen. Eine Begleitung durch die Eltern, Großeltern oder Paten war 1956 eher unüblich.
Genau erinnern kann ich mich allerdings an den ersten Rückweg von der Schule: Zwischen dem Malergeschäft Recker und Optik Heitmann erwartete uns unser Nachbar Norbert Heitmann mit seinem Schwarz/Weiß Fotoapparat und machte von uns fünf I-Dötzchen ein wunderbares Foto. Das Wissen, heute den Grundstein zu einer großen schulischen Karriere gelegt zu haben, ist den fröhlichen Gesichtern deutlich anzusehen.

Schulweg

(v.l.: Willi Bahde, Theo Krampe, Franz-Josef (Bubi) Heitmann, Johannes Heidermann und Bernhard Sender)

Am nächsten Tag begann dann die schulische Routine. Der Fußweg von der Wulfener Straße bis zur Schule war natürlich keine große sportliche Herausforderung. Aber es gab auch Mitschüler/innen von der Heide, vom Brink und vom hinteren Kiebitzberg. Dazu muss man wissen, dass die Schulwege zu der Zeit keineswegs alle befestigt und asphaltiert waren. Beleuchtet waren die Wege im Winter in den Außenbereichen natürlich auch nicht. Da waren die Mitschüler/innen froh, gemeinsam mit älteren Geschwister- oder Nachbarkindern den Schulweg antreten zu können. Ich denke, zu der Zeit hatten die Kinder vom Schloß (Louise und Ferdinand von Twickel, Förstersohn Jürgen Wagner und Josef Nottelmann) bei Wind und Wetter den weitesten Fußweg zur Schule zurückzulegen. Die Begriffe „Schulbus“ oder „Taxi Mama“ waren zu jener Zeit noch nicht erfunden. Allerdings hat mir Louise von Twickel bei unserem letzten Klassentreffen im März 2016 ausdrücklich bestätigt, den täglichen Schulweg nicht als besondere Belastung bzw. nicht in schlechter Erinnerung zu haben. Es gab immer irgendetwas zu erzählen oder zu entdecken.

Unser täglicher Schulweg wurde jeden Morgen an der Kirche unterbrochen. Der Besuch der zweiten Messe um kurz nach 7.00 Uhr war für Schüler und Lehrkräfte obligatorisch. Faxen machen, schwätzen oder unruhiges Verhalten war verpönt und hatte eventuell Konsequenzen.
Nach der Messe bestand die Möglichkeit, sich innerhalb eines kurzen Zeitfensters bei „Kösters Fritz“ mit diversen Schulartikeln einzudecken (Schiefertafeln, Hefte (kariert oder liniert), Schulbücher, Katechismus oder auch Laudate).

In dem Laden von überschaubarer Größe (heute Schreibwaren Cosanne) gab es alles was für den geordneten Schulbetrieb erforderlich war.
Auf der linken Straßenseite bei „Kösters Groten“ roch es jeden Morgen gleich: es waren die Rückstände, die beim „Brennen“ anfielen und anschließend dem Vieh verfüttert wurden. Was beim „Brennen“ genau passierte bzw. welches Produkt dort hergestellt wurde, erschloss sich uns Sechsjährigen noch nicht genau.
Auf dem freien Platz zwischen Brennerei Cosanne und der Wohnung von Familie Thiehoff fand regelmäßig morgens ein technisches Spektakel statt:

Ein schwerer Traktor (LANZ BULLDOG oder HANOMAG ?) wurde gestartet. Dazu wurde ca. 10 Minuten lang eine brennende Lötlampe unter den Glühkopf des Traktors gestellt. Wenn der Glühkopf eine zündfähige Temperatur erreicht hatte, wurde das mächtige Holzlenkrad von seinem angestammten Platz entfernt und an der Seite des Traktors angebracht. Mit einer beherzten Drehung an dem Lenkrad wurde der Bulldog gestartet, um dann in der ersten Startphase bedrohlich zu vibrieren und zu qualmen.

Das Schaufenster der Hutmacherei Rentmeister war mehr etwas für die modebewussten Mädchen.
Die ausgestellten Fahrräder bei „Böhmers Theo“ galten in der Regel bis zum Fest der Kommunion als Wunschträume.
Vorbei an unserer letzten Wirkungsstätte, dem Kindergarten, befand sich nach Überquerung des Schluerwegs auf der rechten Seite der Landmaschinenhandel und die Schmiede Korte Heitmann (Korten Herm). Dort herrschte auch morgens schon reges Treiben und die Geräusche, die dort bei den Schmiedearbeiten und anderen Reparaturen entstanden, waren auf der Strasse deutlich zu vernehmen.

An der Schule angekommen, versammelten sich alle Schüler/innen auf dem Schulhof: die Mädchen auf der rechten Seite, die Jungen auf der linken Seite; penibel kontrolliert von Fräulein Pöter. Mit den ersten Lehrerinnen hatten wir einen Glücksgriff gelandet: die Junglehrerinnen Fräulein Schmidt und Fräulein Kordt waren modern, engagiert und im Rückblick nicht als übermäßig streng zu bewerten. Im Laufe der Zeit änderte sich das. Und nicht nur zum Vorteil für die Schüler. Der Zeigestock wurde z.B. nicht ausschließlich dazu genutzt, um zu zeigen, wo die Lippe in den Rhein fließt.

Am Ende der letzten Schulstunde packten alle Schüler/innen ihr Schulsachen in den ledernen Tornister (der gehäkelte Tafellappen hing rechts heraus) und stürmten dem Ausgang zu, um sich auf den Heimweg zu begeben.
Der Heimweg wurde je nach Laune und Wetterlage variiert. Der erste Stopp war in der Regel an Kösters Wiese (heute Cafe Böhmer). Dort weidete „Rapunzel“. Das Pony Rapunzel war bei allen Lembecker Kindern bekannt und beliebt. Rapunzel spielte beim jährlichen Kinderschützenfest im Dorf eine tragende Rolle. Der Kinderschützenkönig (ohne Königin) wurde nämlich standesgemäß in einer Pferdekutsche durch die festlich geschmückten Gassen kutschiert.
Der aufmerksame Leser ahnt es schon: das Pferd vor der Kutsche war natürlich Rapunzel.

An der Gaststätte Sprenger musste man sich entscheiden: geradeaus durch die Gasse „Drubbel“ oder rechts Richtung Dorfpumpe.
In der Gasse „Drubbel“ hatte man die Möglichkeit, ein Gespräch mit Herrn Sender (Senders Fritz) zu führen. Das Gespräch lief ungefähr wie folgt: „ Hallo Jungs. Düssen Nomdag mött i nochmol wierkommn. Ik krieg nämlich ne grote Lieferung van junge Kanins met Flöggel“. Leider habe ich immer den richtigen Lieferzeitpunkt verpasst. Ich habe nie ein Kaninchen mit Flügeln zu Gesicht bekommen. Rechts hinter dem Fachwerkhaus Paesler begann Stegemanns Berg.

In der Woche nach Pfingsten konnten wir in diesem Bereich jeden Tag die Fortschritte der Vorbereitungen zum Schützenfest beobachten. Angefangen vom Schützenfestzelt, Kinderkarussell, Kettenkarussell (mit 2 großen Schwänen) über weitere Buden und Imbissstände bis zum Süsswarenwagen von „Schlattjann“ aus Heiden wurde alles kritisch beobachtet und bewertet.

Am Giebel der Gaststätte Stegemann befanden sich zwei besondere Einrichtungen:
1. ein großer Schaukasten mit vielen bunten Plakaten und Bildern mit denen das aktuelle Filmprogramm angekündigt wurde. Die Filme wurden wöchentlich in der Gaststätte Stegemann aufgeführt (Fernsehgeräte waren noch nicht sehr verbreitet).
2. Zwei in der Wand befestigte Eisenkonstruktionen deren Bedeutung nur die Schulkinder (die dort regelmäßig vorbeikamen) und die Junggesellen des Dorfes genau kannten. An diesen Eisenkonstruktionen wurde am Abend vor dem 1. Mai von den Junggesellen ein mächtiger und bunt geschmückter Maibaum errichtet und befestigt.

Wenn wir uns bei Sprenger für die westliche Route (Richtung Dorfpumpe) entschieden hatten, konnten wir in der Gasse zwischen „Stenen Hues“ und „Schuster Wessling“ durch ein Fenster Herrn Wessling bei seiner Handwerksarbeit zusehen. Er pflegte, reparierte und besohlte dort die Schuhe seiner Kunden. Wir konnten dort die erforderlichen Arbeitsschritte verfolgen und zum Teil auch die Gerüche der verwendeten Materialien (Leder und Leim) wahrnehmen.
Nur wenige Schritte entfernt stand die mächtige Dorfpumpe. Wir gingen nie an der Pumpe vorbei ohne einige Male den großen Pumpenschwengel zu betätigen um einige satte Strahle Wasser zu fördern. Manchmal durften wir „Orgel Bennad“ oder „Herms Buer“ beim Befüllen ihrer Wassertonnen helfen, die sie dann anschließend zu ihren Wiesen fuhren, um dort ihre Tiere zu versorgen.

Welche Arbeiten in der Schreinerei Soppe oder Bahde gerade verrichtet wurden, konnten wir schon als Schulkinder an den Geräuschen erkennen. Die hochtourig heulenden Hobelmaschinen unterschieden sich deutlich von den Geräuschen, die von den diversen Sägen oder Schleifmaschinen ausgingen.
Ab Stegemann konnte ich unser Haus mit dem Haushaltswarengeschäft und den zwei Tanksäulen davor sehen.
Ob in der Schmiede Rosenbaum morgens Landwirte ihre Pferde mit neuen Hufeisen versehen lassen hatten, konnte ich kurz vor Erreichen des Elternhauses schon riechen. Den Geruch, der entstand, wenn Karl Rosenbaum das glühende Hufeisen dem Pferdehuf anpasste, empfand ich nie als lästig oder unangenehm, aber er war schon sehr speziell und einzigartig. In der Hufschmiede Rosenbaum herrschte stets reger Betrieb. Die Bauern kamen regelmäßig alle 8-10 Wochen mit ihren Pferden um sie neu beschlagen zu lassen.

Entweder war bei starkem Straßeneinsatz das Hufeisen verschlissen oder durch das Nachwachsen des Horns war eine Neuanpassung erforderlich. Ich glaube, Karl Rosenbaum und seine Jungs genossen als Hufschmiede bei den Bauern einen guten Ruf. Auch bei den Nachbarn war Karl beliebt.
Nachbar Franz Heitmann hat gemeinsam mit Karl Rosenbaum die Mutter aller Fertighäuser geplant und realisiert. Als Quellmann und Pidolke sind die beiden mit der Errichtung des bundesweit ersten Fertighauses im Elven aus den Lembecker Geschichten nicht wegzudenken. Als Schulkinder haben wir täglich an der Entstehung und dem Transport (auf Holtrichters Leiterwagen) dieses Projektes teilnehmen können. Aber das ist eine andere lange Geschichte.

Hinter der Apotheke Hagedorn bzw. hinter der Schmiede Rosenbaum war als letztes Haus auf der rechten Seite, versteckt unter großen Kastanien und hinter einem großen Holzkreuz das alte Pastorat. Dort lebte zu jener Zeit der Pastor Teeke mit seiner Haushälterin Frau Thekla. Zu unserer Schulzeit wohnten jeweils die Kapläne Wielewski und Dufhues ebenfalls in diesem großen Gebäude.

Auf der linken Seite endete die Dorfbebauung praktisch hinter der Sattlerei Einhaus. Mehrere hundert Meter entfernt stand allerdings schon das Wohnhaus der Familie Rekers. Auf der großen Fläche zwischen Einhaus, Friedhof und Rekers hatten Familien aus dem Dorf Gärten und Äcker angelegt um dort z.B. Kartoffeln, Erbsen und Fietzebohnen anzubauen.
Mit dieser Sichtachse endete mein täglicher Schulweg.

Anmerkung
Die tägliche Routine des Schulweges konnte allerdings unterbrochen werden. Ich sage nur: Beerdigung.
Trotz der Trauer bei den betroffenen Familien hatte man als Messdiener einer Beerdigung nur Vorteile:
a) Wegfall der ersten Schulstunden
b) Gemeinsames Kaffeetrinken mit „Kortenhorns Wilm“ bei Bölling oder in Sprengers Küche.
c) Die abgeschnittenen, etwas trockeneren Ränder von Bienenstich und Streuselkuchen (sogenannte Schnibbel) durften in einer großen Tüte mit zur Schule genommen werden.
d) Der anschließende Weg zur Schule konnte zeitlich mit etwas Phantasie in einem gewissen Rahmen beeinflusst werden.
e)
2016: 60 Jahre nach den oben beschriebenen Erfahrungen auf dem Schulweg lautet mein persönliches Fazit:
Das Glück lebt auf dem Land

Johannes Heidermann

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